* 37 *
Die Nacht schritt weiter voran, und die Menschen in dem Zimmer hinter der großen roten Tür schliefen unruhig auf der kunterbunten Ansammlung von Kissen und Teppichen. Zweimal wurden sie unsanft von Donner geweckt, der nicht nur nach der gewitterschwarzen Farbe seines Fells benannt war, doch nach einigen Protesten und ausgiebigem Luftfächeln schlummerten alle bald wieder ein.
Jenna hatte wieder ihr altes Schrankbett in Besitz genommen, in dem noch die kratzigen, fadenscheinigen Decken aus ihrer Kindheit lagen. Mit den feinen Laken und weichen Pelzen, mit denen ihr Himmelbett im Palast ausgestattet war, konnten sie sich nicht messen, doch Jenna liebte ihre alten Decken und ihr Schrankbett noch genauso wie früher. Sie kniete sich auf die Matratze und spähte ein paar Minuten lang durch das kleine Fenster, blickte hinauf zu den Sternen und hinunter zum Fluss, so wie sie es immer vor dem Einschlafen getan hatte. Da aber Dunkelmond herrschte – schläfrig erinnerte sie sich, wie ihr Tante Zelda einmal des Nachts in den Marram-Marschen erklärt hatte, was das bedeutete – und zudem dicke Schneewolken die meisten Sterne verdeckten, konnte sie nicht viel erkennen. In ihrem Schrank war es kälter, als sie es in Erinnerung hatte, doch bald war auch sie eingeschlafen, zusammengerollt, da ihr das Bett zu kurz geworden war, und zugedeckt mit den kratzigen Decken, ihrem feinen pelzgefütterten Prinzessinnenmantel und ihrem neu erworbenen Hexenmantel. Es war eine seltsame Kombination, aber sie hielt warm.
Septimus und Marcellus bewachten die ganze Nacht hindurch abwechselnd die Tür – zwei Stunden Wache, zwei Stunden Schlaf. Als sich gegen vier Uhr morgens der schwarze Nebel die Hin-und-Zurück-Straße herunterwälzte und gegen die große rote Tür drückte, war gerade Septimus an der Reihe. Er weckte Marcellus, und wie auf heißen Kohlen sitzend, beobachteten sie zusammen die Tür, die ihre Angeln fester anzog. Endlose Minuten verstrichen, doch das Dunkelfeld kam nicht herein.
Dies lag nicht nur an Septimus’ Zauber, sondern auch an der großen roten Tür selbst. Benjamin Heap hatte sie nämlich mit eigenen magischen Schutzschirmen ausgestattet, bevor er sie seinem Sohn Silas schenkte. Auf diese Weise hatte er sichergestellt, dass sein Sohn und seine Enkelkinder auch nach seinem Fortgang geschützt waren. Benjamins Schutzschirme konnten niemanden aufhalten, den die Heaps zu sich eingeladen hatten (wie etwa die Hebamme, die Septimus entführt hatte), aber sie boten einen recht wirksamen Schutz gegen jeden, der nicht über die Schwelle gebeten worden war. Benjamin hatte Silas nie davon erzählt, denn er wollte seinem Sohn nicht das Gefühl geben, dass er an seinen Fähigkeiten als Zauberer zweifelte – was er natürlich tat. Aber Sarah Heap vermutete es schon seit Langem.
Und so verstärkte das Dunkelfeld seine Angriffe auf die große rote Tür – wie auch auf die drei anderen Widerstandsnester in der Burg: den Zaubererturm, die Hermetische Kammer – und Igors geheime Sicherheitskammer in der Gruselgrotte, in der sich neben Igor selbst noch Marissa, Matt und Marcus aufhielten. Doch hinter der großen roten Tür war man vorläufig noch sicher. Und als das erste Licht der aufgehenden Sonne durch das staubige Fenster drang, ließen Septimus und Marcellus in ihrer Wachsamkeit nach und sanken neben der Glut des Feuers in einen unruhigen Schlaf.
Sarah Heap erwachte wie jeden Morgen mit der Sonne – und mit einem steifen Hals, denn sie hatte auf einem schütteren Teppich und einem steinharten Kopfkissen geschlafen. Sie streckte ihre schmerzenden Glieder, stand auf und tappte, indem sie über Marcellus hinwegstieg und Septimus behutsam ein Kissen unterschob, ungelenk zum Feuer. Dann legte sie ein paar Holzscheite in die Glut, schlang sich die Arme um den Leib und sah zu, wie die Flammen zum Leben erwachten. Im Stillen dankte sie Silas für die Vorräte, die er angelegt hatte: das Kaminholz, das sauber unter Jennas Bett gestapelt war, die Decken, Teppiche und Kissen, zwei Schränke voller Einmachgläser mit Obst und Gemüse und einen ganzen Karton Zauberstangen, die sich mit dem richtigen Zauber in schmackhafte Streifen aus getrocknetem Fleisch oder Fisch zurückverwandeln ließen (zu diesem Zweck hatte Silas in weiser Voraussicht einen kleinen, stockähnlichen Charm danebengelegt). Außerdem hatte Silas das Klo repariert, das für Sarah ein ständiges Ärgernis gewesen war, solange die Familie hier gewohnt hatte. Die sanitären Einrichtungen gehörten nicht zu den Stärken der Anwanden, und die Toiletten, die wenig mehr waren als kleine Erker an der Außenmauer, waren ständig verstopft. Aber jetzt hatte Silas das endlich in Ordnung gebracht. Dies alles und der Wasserzwerg, den sie spät in der Nacht ganz hinten in einem Schrank entdeckt hatte, ließen Sarah in wehmütiger Zuneigung an Silas denken. Sie sehnte sich danach, ihm zu danken und sich dafür entschuldigen, dass sie so oft über ihn geklagt hatte, wenn er verschwunden war, ohne ihr zu sagen, wohin. Doch am meisten wünschte sie sich, sie könnte ihn wissen lassen, dass sie in Sicherheit war.
Sie holte den Wasserzwerg hervor und stellte ihn oben auf den Schrank, in dem sie ihn entdeckt hatte. Sie schmunzelte, als sie begriff, warum Silas ihn versteckt hatte – es war einer von den ungehobelten. Aber das schadete nicht, solange er nur genug Wasser für den Kessel spendete. Wasser war der Punkt, der ihr am meisten Sorgen bereitet hatte – deshalb der riskante Gang zum Brunnenhof. Doch dank Silas hatten sie jetzt eine zuverlässige Quelle.
Sarah hängte den Kessel über das Feuer, setzte sich und wartete, bis das Wasser kochte, so wie sie es früher jeden Morgen getan hatte. Sie hatte diese seltenen Augenblicke geliebt, wenn alles ruhig und friedlich war und sie etwas Zeit für sich hatte. Als die Kinder noch sehr klein waren, hatten natürlich häufig ein oder zwei schläfrig zu ihren Füßen gesessen, doch sie waren immer still gewesen, und als sie älter wurden, waren sie erst aufgewacht, wenn Sarah gegen die Pfanne mit dem Haferbrei geschlagen hatte. Sie erinnerte sich, wie sie den Kessel immer vom Feuer genommen hatte, bevor er zu pfeifen anfing, sich eine Tasse Kräutertee aufgebrüht und dann still dagesessen und den anderen, die auf dem Boden verstreut lagen, beim Schlafen zugesehen hatte – so wie sie es auch jetzt tat. Nur mit dem Unterschied, dachte sie und verzog das Gesicht, als Donner sich wieder auf seine ganz eigene Art bemerkbar machte, dass ihr damals der Anblick eines Haufens frischer Pferdeäpfel erspart worden war.
Sie holte die Schaufel, öffnete das Fenster und warf den dampfenden Haufen ins Freie. Dann lehnte sie sich hinaus und sog die scharfe, frische Morgenluft ein, die leicht nach Schnee und Flussschlamm roch. Glückliche Erinnerungen an gemeinsame Mittwinterfeste mit Silas und den Kindern stiegen in ihr hoch – zusammen mit der Erinnerung an einen sehr viel weniger glücklichen Tag vor vierzehn Jahren. Sie drehte sich um und blickte zu der schlafenden Gestalt ihres jüngsten Sohns hinüber. Was auch kommen mochte, dachte sie, jetzt hatte er endlich eine Nacht in dem Zimmer verbracht, in dem er hätte aufwachsen sollen.
Sie beobachtete, wie die fahle Wintersonne hinter den fernen Hügeln heraufstieg und durch die kahlen Äste der Bäume am jenseitigen Flussufer blinzelte. Sie seufzte. Es war schön, das Tageslicht wiederzusehen. Aber wer wusste, was der Tag bringen würde?
Er brachte neuerlichen Streit zwischen Septimus und Simon.
Septimus und Marcellus hatten sich in eine ruhige Ecke neben den Bücherregalen zurückgezogen und blätterten auf der Suche nach etwas Brauchbarem über Dunkelfelder in alten Zauberbüchern. Doch sie fanden nichts. Die meisten Bände aus Silas’ Sammlung waren gewöhnliche Lehrbücher oder billige Ausgaben älterer Werke, in denen Seiten fehlten – immer die Seiten, die möglicherweise interessant hätten sein können.
Septimus jedoch hatte soeben zwischen den Seiten einer mit Tintenflecken verunzierten Ausgabe von Magie III: Probleme für Fortgeschrittene eine kleine Broschüre gefunden, als Simon herüberkam, um nachsehen, ob seine alten Lieblingsbücher noch im Regal standen. Sein Blick fiel auf den Titel der Broschüre:
Die bösen Kräfte des Rings mit dem Doppelgesicht.
Ein gefährliches und mit schweren Makeln behaftetes Utensil, gewöhnlich von Schwarzkünstlern und ihren Gefolgsleuten verwendet, las Septimus. Nach alter Sitte am linken Daumen getragen. Einmal angesteckt, lässt sich der Ring nur in eine Richtung bewegen und kann daher nur abgenommen werden, indem er über die Daumenwurzel gestreift wird. Die beiden Gesichter stellen angeblich die beiden Zauberer dar, die ihn erschaffen haben. Beide wollten den Ring in ihren alleinigen Besitz bringen und führten darum einen Kampf auf Leben und Tod (siehe dazu die Abhandlung des Verfassers über die Entstehung des bodenlosen Strudels am Bitterbach, für nur sechs Groschen in Wywalds Hexenbuchladen erhältlich). Danach wanderte der Ring von Zauberer zu Zauberer und richtete Chaos und Verwüstung an. Angeblich war er maßgeblich beteiligt an der Schlammplage in Port, den verheerenden Angriffen der Nachtflussschlangen in den Anwanden und höchstwahrscheinlich auch an der Entstehung der Dunkelgrube, über der später die städtische Müllkippe eingerichtet wurde. Die Kräfte des Rings mit dem Doppelgesicht nehmen im Lauf der Zeit immer mehr zu – jeder Träger vereint in sich die schwarzmagischen Kräfte aller vorausgegangenen Träger. Diese Kräfte erreichen ihren Höhepunkt jedoch erst, wenn der Ring dreizehn Monate lang getragen worden ist. Viele behaupten, dass der Ring mit dem Doppelgesicht noch existiert, doch der Verfasser teilt diese Auffassung nicht. Da man seit vielen Jahrhunderten nichts mehr von ihm gehört hat, muss man davon ausgehen, dass er unwiederbringlich verloren gegangen ist.
»Interessant«, sagte Simon, der über Septimus’ Schulter hinweg mitgelesen hatte. »Aber nicht ganz zutreffend.«
Septimus’ Antwort war kurz und unmissverständlich. »Hau ab«, sagte er.
»Ähem«, hüstelte Marcellus.
»Ich versuche nur zu helfen«, sagte Simon. »Wir wollen doch alle herausfinden, wie wir dieses Dunkelfeld loswerden können.«
»Wir schon«, entgegnete Septimus und warf Marcellus kurz einen vielsagenden Blick zu. »Bei dir bin ich mir da nicht so sicher.«
Simon seufzte. »So hör doch, ich mache solche Sachen nicht mehr. Ganz ehrlich.«
»Ha!«, schnaubte Septimus verächtlich.
»Na, na, Lehrling«, sagte Marcellus. »Denk daran, was du deiner Mutter versprochen hast.« Septimus hörte nicht hin.
»Du willst es einfach nicht kapieren, wie?«, rief Simon verzweifelt. »Ich habe einen Fehler gemacht. Gut, es war ein wirklich schlimmer Fehler, aber ich gebe mir alle Mühe, ihn wieder gutzumachen. Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun kann. Gerade jetzt könnte ich wirklich helfen. Ich kenne mich mit diesen ... Dingen besser aus als ihr beide zusammen.«
»Darauf möchte ich wetten«, blaffte Septimus.
»Lehrling, ich finde, du solltest dich beruhigen und ...«
Simon explodierte. »Du bildest dir ein, alles zu wissen, nur weil du Marcias kleiner Liebling bist, aber das tust du nicht.
»Auf deine Weisheiten kann ich verzichten«, schrie Septimus.
»Jungs!« Plötzlich stand Sarah da. »Jungs, was habe ich euch gesagt?«
Septimus und Simon funkelten einander an. »Entschuldige, Mom«, knurrten beide mit zusammengebissenen Zähnen.
Marcellus schlüpfte in die Rolle des Vermittlers und sagte zu dem entrüsteten Septimus: »Lehrling, die Zeiten sind verzweifelt. Und verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen. Wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können. Und Simon hat einen großen Vorzug: Er kennt die Dunkelwelt und ...«
»Eben«, brummte Septimus.
Marcellus überging die Bemerkung. »Und ich glaube, dass er sich geändert hat. Wenn jemand weiß, wie wir das Dunkelfeld bezwingen können, dann er, und es besteht überhaupt kein Grund, so ein Gesicht machen, Septimus!«
»Pah.«
»Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht. Wer weiß, wie lange die Tür dem Dunkelfeld noch trotzen kann? Wer weiß, wie lange die armen Menschen in der Burg im Dunkelfeld überleben können? Und wer weiß, wie lange sich der Zaubererturm noch halten kann?«
»Der Zaubererturm kann sich ewig halten«, sagte Septimus.
»Das bezweifle ich, offen gestanden. Und selbst wenn, wozu wäre das gut? Bald wäre der Turm nur noch eine von der Außenwelt abgeschnittene Insel in einer Burg des Todes.«
»Nein.«
»Merke dir meine Worte, Lehrling. Je länger das Dunkelfeld besteht, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt. Die meisten Menschen werden nur ein paar Tage überleben. Andere, und das sind nicht unbedingt die glücklichen, werden länger am Leben bleiben, aber langsam in den Wahnsinn getrieben. Wir haben die Pflicht, unser Möglichstes zu tun, um das zu verhindern. Stimmst du mir darin zu?«
Septimus nickte. »Ja«, sagte er mit belegter Stimme. Er wusste, worauf Marcellus hinauswollte.
»Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass wir die Hilfe deines Bruders in Anspruch nehmen sollten.«
Septimus konnte den Gedanken nicht ertragen. »Aber wir können ihm nicht vertrauen«, protestierte er.
»Doch, Lehrling. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir ihm vertrauen können.
»Nein, können wir nicht. Er hat sich absichtlich mit den Dunkelkräften eingelassen. Wer tut denn so etwas?«
»Leute wie wir?«, entgegnete Marcellus mit einem Lächeln.
»Das ist etwas anderes.«
»Und ich glaube, dass dein Bruder auch anders ist.«
»Allerdings!«
»Lehrling, dreh mir nicht das Wort im Mund herum«, schalt Marcellus streng. »Dein Bruder hat Fehler gemacht. Er hat dafür einen hohen Preis bezahlt, und er tut es noch.«
»Das geschieht ihm nur recht.«
»Du bist recht nachtragend, Lehrling. Bei jemandem mit deinen Zauberkünsten ist das keine einnehmende Eigenschaft. Du solltest in deinem Sieg mehr Großmut zeigen.«
»In meinem Sieg?«
»Frage dich, wer du lieber sein möchtest – Septimus Heap, der allseits beliebte und geachtete Außergewöhnliche Lehrling, dem eine glänzende Zukunft winkt, oder Simon Heap, der, in Ungnade gefallen und nach Port verbannt, von der Hand in den Mund leben muss und vom Leben wenig zu erhoffen hat?«
Von dieser Seite hatte es Septimus noch nie betrachtet. Er schielte zu Simon hinüber, der allein am Fenster stand und unverwandt nach draußen starrte. Marcellus hatte recht. Für nichts in der Welt würde er mit Simon tauschen wollen.
»Ja«, sagte er. »Ich habe verstanden.«
Und so kam es, dass, zu Sarah Heaps Überraschung und Freude, ihr jüngster und ihr ältester Sohn in den folgenden Stunden zusammen vor Silas Heaps Bücherregal saßen und sich hin und wieder mit Marcellus Pye berieten, über den sie ihre Meinung im Übrigen gründlich geändert hatte. Dann und wann fischte einer ein Buch aus dem Regal, sonst saßen sie ruhig und einträchtig beisammen.
Als die Nacht anbrach, hatten Septimus und Marcellus Pye eine Menge von Simon erfahren. Wie zum Beispiel, dass er den Ring mit dem Doppelgesicht zuletzt bei den schleimigen Knochen seines alten Meisters DomDaniel gesehen hatte, als diese ihn erwürgen wollten. Dass er die Knochen in einen Sack gesteckt und im Observatorium in den Endlosschrank geworfen hatte. Oder dass Merrin den Ring von dem matschigen Daumenknochen DomDaniels gezogen haben musste – eine Vorstellung, die sie alle erschaudern ließ.
Septimus war der Ansicht gewesen, dass das Dunkelfeld sich auflösen würde, wenn es ihnen gelänge, Merrin zu fassen und ihm den Ring abzunehmen. Aber Simon hatte ihnen erklärt, dass dazu mehr erforderlich war, wenn ein Dunkelfeld erst einmal errichtet war, nämlich die kraftvollste Magie, die überhaupt möglich war. Und als er auf die paarigen Geheimformeln zu sprechen kam, berichtete Marcellus schweren Herzens, was damit geschehen war, und die Stimmung verdüsterte sich.
»Es gäbe da vielleicht einen Weg«, sagte Simon nach einer Weile. »Lehrlinge desselben Außergewöhnlichen Zauberers sind durch ein magisches Band miteinander verbunden. Alther und Merrin sind beide bei DomDaniel in die Lehre gegangen. Und Alther ist der Höhergestellte. Es besteht eine kleine Chance, dass er das Dunkelfeld durch einen Zauber aufheben kann, wenn der das Werk eines rangniedrigeren Lehrlings ist. Aber ...«
Septimus hörte interessiert zu. »Aber was?«, fragte er.
Es war seine erste Frage an Simon, die nicht zugleich auch ein Vorwurf war.
»Aber ich bin mir nicht sicher, ob es auch bei Geistern funktioniert«, antwortete Simon.
»Aber es könnte funktionieren?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
Septimus fasste einen Entschluss. Er würde in die Finsterhallen gehen und Alther suchen. Egal, ob Alther tatsächlich die Macht besaß, von der Simon gesprochen hatte, er würde ganz bestimmt wissen, was zu tun war. Alther war ihre einzige Hoffnung.
Septimus wandte sich an Marcellus. »Sie sagten doch, dass es noch andere Portale in die Finsterhallen gibt.«
»Ja?« Marcellus ahnte, was Septimus im Sinn hatte.
»Wir müssen das günstigste finden, denn ich werde Alther zurückholen.«
Simon war entsetzt. »Du kannst nicht in die Finsterhallen gehen!«
»Und ob ich das kann. Ich hatte sowieso vorgehabt hinzugehen – bevor das alles hier geschehen ist.«
Simon sah ihn sehr besorgt an. »Septimus, sei vorsichtig. Deswegen hatte ich dir geschrieben – abgesehen davon, dass ich mich dafür entschuldigen wollte, dass ich dich ... dass ich dich umbringen wollte. Es tut mir wirklich sehr leid. Ehrlich. Das weißt du doch, oder?«
»Ich glaube schon«, antwortete Septimus.
»Ich möchte auf keinen Fall, dass mein kleiner Bruder in die Fänge der Dunkelkräfte gerät. Sie ergreifen von dir Besitz. Sie verändern dich. Es ist schrecklich. Und die Finsterhallen sind der schlimmste Ort von allen.«
»Simon, ich möchte ja gar nicht, aber Alther ist dort«, sagte Septimus. »Und wenn die Chance besteht, dass er uns helfen kann, dann möchte ich sie nutzen. Außerdem habe ich Alice versprochen, dass ich ihn zurückbringen werde. Und versprochen ist versprochen.«
Simon spielte seine letzte Karte aus. »Aber was wird Mom dazu sagen?«
»Wozu?«, rief Sarah vom anderen Ende des Raums. Sie hatte wahre Fledermausohren, wenn ihre Kinder über sie sprachen.
»Nichts, Mom«, antworteten Septimus und Simon im Chor.
Im Schatten des Bücherregals zog Marcellus die Taschenbuchausgabe seines Werkes Ich, Marcellus hervor und blätterte im Almanachteil bis zu dem Kapitel mit der Überschrift Portal-Berechnungen: Koordinaten und Himmelsrichtungen.
Es wurde Nacht, und Septimus rief noch einmal nach Feuerspei, obwohl er nicht mehr mit einer Antwort des Drachen rechnete. Die Stille, die erneut nach seinem Ruf herrschte, brachte ihn ganz aus der Fassung, doch er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.
Sarah kochte wieder einen Eintopf, und Lucy, die wissen wollte, wie man einen Eintopf zubereitete, der tatsächlich auch genießbar war, half ihr dabei. Nach dem Essen kehrten Septimus, Simon und Marcellus gestärkt zum Bücherregal zurück und beendeten den ersten Teil der Berechnungen, aus denen hervorging, dass das Portal in die Finsterhallen ungefähr eine halbe Meile entfernt war. Niemand war von dem Ergebnis sonderlich überrascht.
Der Abend schritt voran, und ein Nordostwind kam auf. Er rüttelte an der Fensterscheibe und blies eisige Luft durch die Ritzen in das Zimmer. Die Bewohner wickelten sich in Decken und legten sich schlafen. Bald wurde es still in dem Raum hinter der großen roten Tür.
Kurz nach Mitternacht erschien ein Gespenst draußen vor der großen roten Tür und betrachtete sie neugierig. Es legte seine fransigen Hände auf das glänzende rote Holz und zuckte zurück, als es die getarnte Magie berührte, mit der die Tür überzogen war. Unbemerkt von Marcellus – der Wache hatte, aber eingeschlafen war –, erzitterte die Tür und zog ihre Angeln noch fester an.
Finstere Flüche vor sich hin grummelnd, hoppelte das Gespenst wieder den Korridor hinunter.